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„Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“, formulierte es einst der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein sehr treffend. Mit jeder neuen Chinesisch-Vokabel setzt sich also das mentale China-Puzzle ein Stück weiter zusammen. In unserer Chinesisch-Kolumne bringen wir spannende Besonderheiten und aktuelle Entwicklungen zur Sprache.
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Sie fahren leidenschaftlich gerne Auto? Das sollten Sie lieber nicht zu laut sagen, zumindest nicht auf Chinesisch. Denn während das Wörterbuch beim Eintippen der Zeichenkombi 开车 kāichē (“steuern - Wagen”) nur die unverfängliche Übersetzung “Auto fahren” ausspuckt, sitzt doch seit einiger Zeit eine weitere Inhaltskomponente – für Fremdsprachenlerner unbemerkt – als blinder Passagier auf dem Bedeutungsbeifahrersitz. Ein Kraftfahrzeug steuern ist nämlich neuerdings auf Chinesisch auch ein Synonym für “schlüpfrige Bemerkungen fallen lassen” oder “mehrdeutige Andeutungen machen”. Was aber haben Schlüpfrigkeiten mit schnellen Schlitten zu tun? Stopp. Bevor sich jetzt Ihr Autokino verselbstständigt, ziehe ich lieber gleich die Handbremse und berichte Ihnen, wie sich die semantische Geschichte wirklich zugetragen hat.
Rund um die motorisierte Fortbewegung hat sich nämlich in Chinas Netzgemeinde in den vergangenen Jahren ein ganzes Set an neuen Bedeutungsnuancen angestaut, das sich längst in die Alltagssprache entladen hat. Allen Anfang machte das Schlagwort 老司机 lǎosījī “erfahrener Chauffeur / routinierter Fahrer”, im Netzjargon ein Synonym für jemanden, der alle Ecken und Winkel seines Metiers wie die eigene Westentasche kennt und anderen eine „Mitfahrgelegenheit“ durch das fremde Terrain bietet. Dank der „Streckenkenntnis“ und Hilfe des „lǎosījī“ gelangen andere so leichter ans Ziel.
Ursprünglich wurde „lǎosījī“ vor allem in Foren und Chats zur Bezeichnung von versierten Surfern gebraucht, die Downloadlinks zu allen möglichen Ressourcen (资源 zīyuán) besaßen, zum Beispiel Spiele, Videos, Musik und E-Books. Teilten diese „Chauffeure“ ihre Quellen mit anderen Usern, hieß das „den Wagen fahren“ (开车 kāichē). Wurde das Material gelöscht, war im Internetjargon übrigens von 翻车 fānchē – dem “Autoüberschlag” – die Rede, aber darüber habe ich in einer anderen Sprachkolumne schon einmal ausführlich berichtet.
Mit schnellerem Internet und steigendem Datenvolumen erlebte dann das Livestreaming (直播 zhíbō) als Vermarktungsmodell in China einen echten Hype. Im Zuge dessen trat eine neue Gruppe von “Berufsfahrern” auf den Plan: die Livestream-Moderatoren. Auch diese “Chauffeure” – streng genommen waren es überwiegend “Chauffeurinnen” – teilten in ihren Streamingräumen (直播间 zhíbōjiān) massig Mehrwert mit der kauffreudigen Menge. Statt mit Downloadlinks lockten einige weibliche „lǎosījī“ nämlich nicht nur mit Schnäppchen zu Schleuderpreisen, sondern bezirzten die potentielle Käuferschaft auch mit verführerischem Auftreten. Sparsam bekleidet geizten sie in ihren Livemoderationen nicht mit Mehr- und Doppeldeutigkeiten, was dazu führte, dass die Verkaufszahlen einen Gang zulegten. Semantischer Nebeneffekt: das Wort 开车 kāichē galt nunmehr auch als blumige Umschreibung für sexuelle Anspielungen aller Art, die man gratis “als Mehrwert” dazu bekam, und fand als Neologismus Einzug in die Umgangssprache.
Ein Sicherheitshinweis für PS-Junkies: Natürlich darf man in China aber beim Befahren öffentlicher Kanäle nicht durch offensichtlich Pornographisches völlig aus der Spur geraten. Sonst sind einem schnell die Sittenwächter auf den Fersen. Dreiste Provokateure sind daher stets darauf bedacht, ihre PS-starke Zunge auf dem Direktheitstachometer so zu zügeln, dass sie sich noch ungeschoren aus der Affäre ziehen können. Erlaubt ist es also maximal, verbal die Leitplanke zu schrammen, oder – wie man im Tischtennis verliebten China stattdessen metaphorisch zu sagen pflegt – “einen Kantenball zu spielen” (擦边球 cābiānqiú), also den Gesprächsball so flach zu halten, dass er gerade noch im legalen Spielfeldbereich landet.
Perlen Ihnen als Sprachenlerner nun schon die Schweißperlen auf der Stirn angesichts der peinlichen Missverständnisse, die da in der Kommunikation lauern? Was, wenn Sie in der nächsten Chinesischstunde wirklich nur von Ihrer Passion für das Autofahren und PS-starken Untersätzen schwärmen wollen? Nun, hier sei zumindest teilweise Entwarnung gegeben. Auch mit dem Begriff 开车 kāichē selbst bewegen Sie sich nämlich in einer wohligen Doppeldeutigkeitswolke. Je nach Kontext wird man Sie schon richtig verstehen.
Einzige Ausnahme: sollten Sie verkünden, ein gelbes Auto zu fahren. Denn Gelb (黄 huáng) ist in China nicht nur die Farbe der Palastdächer, sondern auch der Pornographie. Sie dient als Synonym für alles Pornographische. So werden Erotikstreifen auf Chinesisch gerne auch als “gelbe Filme” (黄片 huángpiān) bezeichnet. Heißt es also, jemand steuere gerne einen gelben Wagen (开黄车 kāi huángchē), ist die Sache glasklar – gemeint ist (allerhöchstwahrscheinlich!) ein Hang zu anzüglichen Andeutungen und keine Vorliebe für quietschgelbe Ferraris. Es sei denn, man findet einen Weg, sich doch noch kantenballmäßig aus der verbalen Grenzzone zu manövrieren.
Von Verena Menzel
用二十个词说 ... 开车
Auto fahren ... in 20 Worten
路怒症
lùnùzhèng
"Straßencholeriker, Straßenwut,
Wutausbruch hinterm Steuer, Roadrage"
diēwèir
"Daddy-Duft"
àirén
"iMenschen"
fàngyáng
"das Schaf rauslassen"
rénshè bēngtā
"Rollen-Kollaps"
hǔbèi-xióngyāo
"Tigerrücken & Bärentaille"
bānzhuān
"Backsteine schleppen"
zhínán’ái
"Chauvi-Cancer"
hǎiwáng
"Poseidon-Playboy"
hěn cài
"Voll gemüsig"
xiānán
"Garnelen-Guys"
kāichē
"Anzügliche Autofahrten"
chuànmén
"Besuchsmarathon"
tùnián
"Hasenjahr"
huángtáo guàntóu
"eingelegte Pfirsiche"
tuōkǒuxiù
"Stand-up-Comedy"
bēiguō
"Topfträger"
dàijià
"Vertretungsfahrer"
xiéyīngěng
"Wortspiele"
guāzǐliǎn
"Guazi-Kult"
zhìyù
"So geht Entschleunigung in China"
fàng gēzi
"Tauben fliegen lassen"
tiàocáo
"Futtertrog-Hopping"
diàndēngpào
"(überflüssige) Glühbirne"
hǔnián
"Tiger, Tiger, Tiger"
bàofùxìng xiāofèi
"Rachekäufe"
yǒngyuǎn de shén
"YYDS"
shuāngshíyī
"Doppelelffest"
xxxu
"Pssst!"
sùliào pǔtōnghuà
"Plastikchinesisch"
fěnsī
"Fannudeln"
tiáoxiū
"Ruhetagwechsel"
dǎ mǎsàikè
"ein Mosaik legen"
dǎ jiàngyóu
"Sojasoße schlagen"
pèngcí
"Porzellan anstoßen"
báicàijià
"Chinakohlpreise"
biāotídǎng
"Klickköder-Clique"
wūlóngqiú
"Oolong-Tor"
fānchē
"Karriere-Crash"
xuéxí-ing
"lern"-ing"
méng
"Mengmania"
zhòngcǎo
"Gräschen pflanzen"
tǎngpíng
"flachliegen"
mōyú
"Fische tätscheln"
bīngxiù
"Eisärmel"
kěn shēngròu
"rohes Fleisch nagen"
fán'ěrsài
"einen auf Versailles machen"
máodùn
"Von wegen Gegensätze"
bǐxīn
"Herzensschnipper"
duō hē rèshuǐ
"Trinkt mehr warmes Wasser!"
bèi lǜ le
"gegrünt werden"
jīwá
"Aufgehuhnte Kinder"
biǎoqíng
"Chinesische Emoticons"
TA
"Gendern auf Chinesisch"
chībō
"Essens-Livestream"
wǎnghóng
"Influencer, Internetstars"
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