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„Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“, formulierte es einst der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein sehr treffend. Mit jeder neuen Chinesisch-Vokabel setzt sich also das mentale China-Puzzle ein Stück weiter zusammen. In unserer Chinesisch-Kolumne bringen wir spannende Besonderheiten und aktuelle Entwicklungen zur Sprache.
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Heiße Zitrone, Zwiebelsirup, Ingwertee und Hühnerbrühe, Erkältungsbäder und Wadenwickel… Vielleicht sollten Sie beim nächsten Grippe- oder Corona-Knockout noch ein weiteres Hausmittelchen in diese Riege aufnehmen: nämlich eingelegte Pfirsiche.
Während der Corona-Tsunami durch China wogt, sind in den Hotspots teils nicht nur Fiebermittel wie Ibuprofen (布洛芬 bùluòfēn), Hustensäfte (咳嗽糖浆 késòu tángjiāng) und Antigen-Testkits (抗原 kàngyuán) vergriffen, sondern auch Pfirsiche aus dem Glas oder der Dose (黄桃罐头 huángtáo guàntóu). Die nämlich gelten vor allem in Dongbei (东北 dōngběi), also Nordostchina, als Wunderwaffe gegen grippale Infekte. „Dongbei-Penicillin“ (东北青霉素 dōngběi qīngméisù) taufte die Netzgemeinde sie deshalb scherzhaft. Im Sog des Corona-Strudels erlebte das goldgelbe Konservenobst im Reich der Mitte einen Hype der Herzen und tröstete manchen Chinesen durch die mausgrauen Fiebertage – so man denn ein Gläschen oder Döschen ergattert hatte.
Mancher Fan sagt dem Dosenobst eine appetitanregende Wirkung nach, die den Corona-Heilungsprozess unterstützen soll. Tatsächlich aber handelt es sich wohl doch in erster Linie um ein Pfirsich-Placebo, ein klassisches „comfort food“ (安慰食品 ānwèi shípǐn), das Kindheitserinnerung weckt. Nordostchinesische Omas und Mamas päppelten kränkelnde Kinderkörper nämlich lange liebevoll mit quietschsüßem Konservenobst aus dem Erkältungsjammertal. In den Siebziger- und Achtzigerjahren und auch noch bis in die Neunzigerjahre hinein galten Konserven in Nordchina als kostbares Gut. Erst recht in den kargen Wintermonaten, wo es dort an frischem Obst und Gemüse mangelte. Eingedostes war teuer. Für eine Dose Pfirsiche musste man damals so viel berappen wie für ein Pfund Schweinefleisch. Entsprechend wurden die zuckersüßen Früchtchen nur zu besonderen Anlässen hervorgekramt – etwa bei Verwandtenbesuchen oder zum alljährlichen Frühlingsfest, an Geburtstagen oder eben wenn ein Hascherl mit Husten und hoher Temperatur im Bett ausharrte.
Doch auch im Süden des Landes, wo es ja das ganze Jahr über nicht an frischen Früchten mangelt, fühlt sich mancher Chinese ebenfalls in Kindheitstage zurückversetzt, wenn zuckersüßes Dosenobst am Gaumen zergeht. Umwehte die eingelegten Früchte aufgrund ihres üppigen Zuckergehalts doch der Hauch von Süßigkeiten und damit des „Verbotenen“. Das Konservenobst galt als ungesundes Zuckerzeug voller Konservierungsstoffe und wurde von besorgten Eltern entsprechend mit Argusaugen rationiert. Dosenfrüchte landeten also auch in Südchina nicht jeden Tag auf dem Tisch. Den Kleinen hat’s natürlich trotzdem geschmeckt. Kein Wunder also, dass Chinas Netzgemeinde die Pfirsiche im süßen Sud momentan landesweit augenzwinkernd als „Wunderwaffe gegen Corona“ (抗疫神器 kàng yì shénqì) feiert, dank nostalgischem Erinnerungsfaktor.
Auch bei der älteren Generation wecken die Weckgläser übrigens besondere Assoziationen. Glaubte man im alten China doch, Pfirsichzweige könnten böse Geister vertreiben. Pfirsiche gelten den Chinesen bis heute als Symbol für Gesundheit und Langlebigkeit. Das hängt – wie so oft – auch mit einem Gleichlaut zusammen. Denn das Zeichen für Pfirsich 桃 (táo) klingt genauso wie 逃 (táo) „fliehen“. Wer sich also mit Pfirsichen umgibt, springt – dem Volksglauben nach – Krankheit, Tod und anderem Ungemach von der Schippe. Bis heute hält sich der Brauch, an Geburtstagen „Langlebigkeitspfirsiche“ (寿桃 shòutáo – wörtlich „Menschenleben-Pfirsiche“) zu verschenken – entweder als echte, frische Früchte oder als pfirsichförmiges Gebäck, das ein langes Leben symbolisiert.
Chinesische Supermärkte griffen das Wortspiel anlässlich der Pandemie ebenfalls auf. In den sozialen Medien kursierten Schnappschüsse von Werbeschildern an Pfirsichglas-Paletten. 桃过疫情 táoguò yìqíng hieß es darauf – „Entflieht der Epidemie!“. Wobei das Hanzi für „fliehen“ natürlich durch das für „Pfirsich“ ersetzt war. Falls Sie also einen chinesischen Liebsten an Ihrer Seite haben: Vergessen Sie Zwiebeln und heiße Zitrone und greifen Sie lieber zum Pfirsich-Trostpflaster.
Von Verena Menzel
Ausgefallene Obstsorten und ihre chinesischen Bezeichnungen
diēwèir
"Daddy-Duft"
àirén
"iMenschen"
fàngyáng
"das Schaf rauslassen"
rénshè bēngtā
"Rollen-Kollaps"
hǔbèi-xióngyāo
"Tigerrücken & Bärentaille"
bānzhuān
"Backsteine schleppen"
zhínán’ái
"Chauvi-Cancer"
hǎiwáng
"Poseidon-Playboy"
hěn cài
"Voll gemüsig"
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"Garnelen-Guys"
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"Anzügliche Autofahrten"
chuànmén
"Besuchsmarathon"
tùnián
"Hasenjahr"
huángtáo guàntóu
"eingelegte Pfirsiche"
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"Stand-up-Comedy"
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"Topfträger"
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"Vertretungsfahrer"
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"Wortspiele"
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"Guazi-Kult"
zhìyù
"So geht Entschleunigung in China"
fàng gēzi
"Tauben fliegen lassen"
tiàocáo
"Futtertrog-Hopping"
diàndēngpào
"(überflüssige) Glühbirne"
hǔnián
"Tiger, Tiger, Tiger"
bàofùxìng xiāofèi
"Rachekäufe"
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"YYDS"
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"Doppelelffest"
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"Plastikchinesisch"
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"Fannudeln"
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"rohes Fleisch nagen"
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"Von wegen Gegensätze"
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"Trinkt mehr warmes Wasser!"
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"Influencer, Internetstars"
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